Vom Werden und Vergehen

Gedanken vom Leben
opus tripartitum (2011 – 14)

I. „…, dass Stille wahrhaft Freude ist.“
für Sprecher, Violoncello und Orchester

II. „…wie ein Boot ohne Leine…“
für Sprecher, Kammerensemble und Zuspielung (2012)
Abschied – metoikesis – Heimkehr – Friede

III. „Des Fischers Lied…“
für Sprecher und großes Orchester (2013)

Eine Einführung

I. „…, dass Stille wahrhaft Freude ist.“  
für Sprecher, Violoncello und Orchester

Dieses Werk ist Obuchi Kando und seiner unnachahmlichen Art zu musizieren gewidmet.


Der Stille tiefer Sinn ist mir im Alter aufgegangen,
Drum halte ich mich Tag für Tag der Menschenherde fern.
Da ich den Mönch vom abgelegenen Berg erwarte,
Habe ich schon mein Häuschen für ihn ausgefegt.
Von seinem Wolkengipfel steigt er bald herab.
Kommt mich in meinem grasgedeckten Heim besuchen.
Mit Stroh und Kiefernspänen koch ich ein Mahl.
Verbrenne Räucherwerk, schmökre in Büchern übers Dao.
Nun brennt die Lampe, und das Tageslicht verblaßt,
Die Tempelglocke kündet mir den Abend,
Als plötzlich ich erkenne, daß Stille wahrhaft Freude ist
Und dieses Leben unbemessene Muße hat.
Wie ich mich danach sehne, endlich heimzukehren,
Die Welt des Ich ist doch nur leerer Schein.
                                                    Wang Wei (701 – 761)


II. „…wie ein Boot ohne Leine…“
für Sprecher, Kammerensemble und Zuspielung (2012)      

Diese Komposition knüpft sowohl klanglich als auch inhaltlich an die meine letzte Komposition „…dass Stille wahrhaft Freude ist.“ an.

1 – Abschied                                                                       

Nach langem Zaudern lass ich die Kutsche abfahren,
Verlasse schweren Herzens die efeuumrankten Tannen.
Ach, wie ertrag ich’s, von den blauen Bergen fortzugehen,
Abschied zu nehmen von diesem grünen Fluß?
                                                           Wang Wei (701 – 761)

2 – Metoikesis

Der Begriff „metoikesis“ bedeutet „Umsiedlung“. Sokrates benutzt in im Phaidon mehrere Male „… damit die Umsiedlung (metoikesis) von hier nach dort glücklich geschehe“. Der Philosoph Peter Sloterdijk verwendet ihn für die „Umsiedlung der Seele“.

3 – Heimkehr

Einmal zum Hanshan gelangt,
                                        alle Geschäfte ruhn.
Keine verwirrten Gedanken mehr,
                                        ohne Zweifel das Herz.
In Seelenruhe
                                        ein Gedicht an die Felswand schreiben:

Die Dinge lassen,
                             gehen
                                        wie ein Boot ohne Leine.
                         kommen
                                                                Hanshan (7. /8. Jh.)

4 – Friede

… Wer des Lebens Bedingungen versteht,
der wird sich nicht abmühen um Dinge,
die für das Leben überflüssig sind. …
… Wenn das Leben kommt, so läßt es sich nicht abweisen;
wenn es geht, so läßt es sich nicht festhalten. …
          aus: Zhuang Zi (365 – 290 v. Chr.): Das wahre Buch vom südlichen Blütenland

„Das Kleine geht hin, das Große kommt her.“  
                                                                                              aus dem „I Ging“

III. „Des Fischers Lied…“
für Sprecher und großes Orchester (2013)                            

Der Tod ist kein Ereignis des Lebens. Den Tod erlebt man nicht.

Wenn man unter Ewigkeit nicht unendliche Zeitdauer, sondern Unzeitlichkeit versteht, dann lebt der ewig, der in der Gegenwart lebt.

Unser Leben ist ebenso endlos, wie unser Gesichtsfeld grenzenlos ist.

Die zeitliche Unsterblichkeit der Seele des Menschen, das heißt also ihr ewiges Fortleben nach dem Tode, ist nicht nur auf keine Weise verbürgt, sondern vor allem leistet diese Annahme gar nicht das, was man immer erreichen wollte. Wird denn dadurch ein Rätsel gelöst, dass ich ewig fortlebe? Ist denn dieses ewige Leben dann nicht ebenso rätselhaft wie das gegenwärtige?

Die Lösung des Rätsels des Lebens in Raum und Zeit liegt außerhalb von Raum und Zeit.

Wie die Welt ist, ist für das Höhere vollkommen gleichgültig. Gott offenbart sich nicht in der Welt.
                                                      aus: Ludwig Wittgenstein: Tractatus Logico – Philosophicus       (6.4311 – 6.4312)


… Wer des Lebens Bedingungen versteht,
der wird sich nicht abmühen um Dinge,
die für das Leben überflüssig sind. …

…Wer die Bedingungen des Schicksals kennt,
der wird sich nicht abmühen um Dinge,
die wir nicht wissen können. …

… Wenn das Leben kommt,
so läßt es sich nicht abweisen;
wenn es geht, so läßt es sich nicht festhalten. …
                                             aus: Zhuang Zi (365 – 290 v. Chr.): „Das wahre Buch vom südlichen Blütenland“


Die späten Jahre sind ganz Stille geworden.
Der Welt Geschäfte kümmern das Herz nicht mehr.
Zurückgewandt aufs Selbst, ganz ohne große Pläne.
Des Wissens leer, kehre ich wieder in die Heimat.
Wind aus den Föhren läßt die gelöste Schärpe flattern.
Der Mond überm Berg leuchtet zu meinem Zitherspiel.
Du fragst mich, wie ich stehe zu Misslingen und Erfolg?
Des Fischers Lied klingt weit das Flussufer herauf….
                                       Wang Wei



Eine Einführung:

Das menschliche Leben ist in seine Gänze sehr facettenreich. Es besteht aus vielen, oft sehr unterschiedlichen Bestandteilen. Einen großen Raum nimmt dabei der Tod und das Sterben ein. Jeder wird irgendwann damit konfrontiert, jeder muss irgendwann in seinem Leben einen Verlust hinnehmen und lernen, diese Situation zu bewältigen. Dies ist notwendig, um ein Weiterleben zu garantieren.

Auf die Reflexionen von Leben und Tod ruhen auch die Fundamente aller Religionen. Der christlichen Kultur war es immer wichtig, im Requiem dem Verstorbenen zu gedenken und ihn in Gedanken zu begleiten. Das Agnus Dei endet mit dem Text: „…und das ewige Licht leuchte ihnen“.

Johannes Brahms öffnete in seiner Requiemsvertonung die bisher vorherrschende Gedankenwelt und nahm einen Paradigmenwechsel vor. Seine Gedanken gelten in erster Linie nicht dem Verstorbenen, sein Blick richtet sich zuerst auf die Hinterbliebenen. Das Werk beginnt mit dem Text: „Selig sind, die da Leid tragen, denn sie sollen getröstet werden.“

Diese Denkkultur, die Brahms vor ca. 150 Jahren formulierte, ist heute Allgemeingut. So verbannte zum Beispiel das Zweite Vatikanische Konzil die schreckenszenario beschreibende Sequenz „Dies irae – Tag des Zornes“ aus dem römischen Messtext.

Doch egal wie die Zeit voranschreitet und wie Kulturen sich verändern, die essentiellen Fragen bleiben doch immer die gleichen: Wie gehe ich persönlich mit Sterben und Tod um? Wie reagiere ich auf einen unvermittelt eintretenden „worst case“?

In drei Schichten nähert sich dieses opus tripartitum einem Thema, das doch immer unnahbar bleibt. In drei Zeiträumen nähert sich dieser Zyklus, aufeinander aufbauend, dem Unvorstellbaren. In drei Ansätzen versucht diese Sammlung ….

Wie muss es sein, wenn – der Stille tiefer Sinn mir im Alter aufgegangen ist – ? Wie fühlt es sich an, in einem – Boot ohne Leine – ?

Ludwig Wittgenstein versucht – rational abgeklärt -einen logischen sprachwissenschaftlichen Ansatz: „…den Tod erlebt“ man nicht.“ Der chinesische Philosoph Zhuang Zi schärft den Blick, das eigene Dasein in ein größeres Gefüge einzuordnen. Die Bedeutsamkeit des Menschen ist seine Unbedeutsamkeit. Poetisch formuliert finden sich diese Gedanken in dem Gedicht „Antwort an Forstminister Zhang“ des Dichters Wang Wei wieder.

Doch was kann die Musik, die alle Bereiche unserer menschlichen Existenz berühren kann, bewirken? Mit welchen Schwingungen menschlichen Wirkens und Denkens geht sie in Einklang? – „Die späten Jahre sind ganz der Stille gewidmet…“