Reflexionen

Reflexionen

für Chor a cappella

Antizipation

jitgäddäl (das Kaddisch)
Heilig

Reflexion I

Ut queant laxis
Dass sie mit freien Kehlen

Reflexion II

Shin Kyorei
Wahrer Geist der Leere

Reflexion III

Chamusch kono az rah chamuschy
Nun werde still und geh den Weg des Schwingens

Welt – Sprache – Musik

WELT – Im Gegensatz zum vergleichsweise exakt definierbaren Begriff der Erde, umfasst die Welt die      Gesamtheit dessen, was wahrnehmbar ist.

Kommentar: Beschränkung auf einen Teil des Ganzen

SPRACHEDie Sprache bezeichnet die wichtigste Kommunikationsform des Menschen.

Kommentar: Beschränkung auf einen Teil der Kommunikationsformen

Im allgemeinen Sprachgebrauch meint ‚Reflexion‘ ein prüfendes und vergleichendes Nachdenken über etwas. Solche Reflexion bezeichnet also vereinfacht das „in sich gehen“, „über Erlebtes nachdenken/reflektieren“, „etwas Revue passieren zu lassen“, „zu einer Erkenntnis zu kommen“.

Kontemplation (von lat. contemplari „Anschauung, Betrachtung“) bedeutet allgemein Beschaulichkeit oder auch beschauliche Betrachtung. Kontemplation ist auch als mystischer Weg der westlichen Tradition bekannt. In der Regel wird durch ein kontemplatives Leben oder Handeln ein besonderer Empfindungszustand oder eine Bewusstseinserweiterung angestrebt. Eine kontemplative Haltung ist von Ruhe und sanfter Aufmerksamkeit auf einen Gedanken bestimmt und unterscheidet sich von der Meditation durch die dort angestrebte vollkommene Leere des Geistes.

Die Ekstase (v. griech. έκσταση, ékstassi, von ekstaseo = aus sich heraus treten, außer sich sein) bezeichnet eine Zustandsveränderung des Bewusstseins zu gleichermaßen höchster Hingabe und höchstem Aufnahmevermögen.

MUSIKMusik ist gestaltete Zeit (im Gegensatz etwa zur bildenden Kunst, die Raum gestaltet).

Kommentar: Betrachtung: Wie gehen verschiedene Kulturkreise musikalisch mit verschiedenen                   Kommunikationsformen um.

Reflexionen

im Allgemeinen

Die „Reflexionen“ für Chor a cappella entstanden im Auftrag des Festivals Europäische Kirchenmusik 2007 in Schwäbisch Gmünd. Thema des Festivals war „Weltsprache Musik“.

Diese Komposition entstand als Folge der Auseinandersetzung mit den verschiedenen großen Religionen (Judentum, Christentum, Buddhismus/Hinduismus und Islam) und deren Erscheinungsformen. Kulturelle Eigenheiten, die sich daraus entwickelt haben bilden die Grundlage sowohl in der Auswahl der in verschiedenen Sprachen und Inhalten der verwendeten Texte, als auch in der Verwendung der unterschiedlichen Musiktheorien.

Alle Religionen befruchteten und befruchten sich permanent gegenseitig, viele Elemente finden sich in ähnlicher Weise in den verschiedenen Religionen wieder. Trotzdem hat jede Religion ihre eigene Spezifikation und ihre Eigenheit. Jeder Religion wurde ein Begriff zugeordnet, der einen wichtigen Teil ihres Wesens charakterisiert. So ist im Christentum das aufklärerische Element, das durch dem Begriff „Reflexion“ dargestellt wird, weit verbreitet. In den asiatischen Religionen Buddhismus und Hinduismus spielt die „Kontemplation“ eine herausragende Rolle. Der Islam wird charakterisiert durch den Begriff der „Ekstase“, der vor allem von den wirbelnden Derwischen (Sufi) gelebt wird.

Jeder dieser drei Begriffe „Reflexion – Kontemplation – Ekstase“ findet sich in allen Religionen, jedoch in unterschiedlicher Gewichtung.

im Besonderen:

Jedem der vier Stücke ist sowohl in der Auswahl der Texte wie auch in der zu Grunde liegenden Musiktheorie einem Kulturkreis verbunden.

„Reflexion I“ basiert auf den Hymnus zu Ehren der Heiligen Johannes „Ut queant laxis“. Dieser Hymnus erlangte in der abendländischen Musiktheorie große Bedeutung, weil Guido von Arezzo (992 – 1050) mit den Anfangsbuchstaben der einzelnen Zeilen dieses Hymnus die Notennamen seiner Tonskala (Ut (Do) – re – mi – fa – sol – la) bezeichnete. Damit begründete er die „Solmisation“. Klanglich ist dieses Stück sehr der Tradition der abendländischen Mehrstimmigkeit verbunden.

„Reflexion II“ setzt sich mit der Komposition „Shin Kyorei – Wahrer Geist der Leere“ auseinander. Es ist eines von 36 Stücken für Shakuhachi der Kinko – Schule, entstanden im 18 Jahrhundert. In diesem Stück entfaltet sich auf der Grundlage der Pentatonik (d – f – g – a – c) – wobei drei dieser Töne dominieren (d – g – c) – eine einstimmige Melodie. Durch die speziellen Spieltechniken der shakuhachi, der japanischen Bambusflöte, entsteht eine Klangvielfalt, die dem Reichtum unserer Zwölftonmusik in Nichts nachsteht. Dem Nicht-Ziel-gerichteten, kontemplativen Charakter dieser Komposition wird dadurch Rechnung getragen, dass die 36 kleinen Abschnitte des Stückes in beliebiger Reihenfolge gespielt werden können. Vor jeder Aufführung erwürfeln die Ausführenden die Reihenfolge der einzelnen Teile, und geben ihr damit die jeweils endgültige Klanggestalt.

Als textliche Grundlage dient ein kurzer Auszug aus Hegels „Vorlesungen über die Philosophie der Religion“ (1821 – 1831). Er setzt sich in diesem Kompendium ausführlich mit dem Buddhismus auseinander. Ob sein Ansatz wirklich als gültig betrachtet werden kann, sei dahingestellt. Interessant ist auf jeden Fall zu sehen, wie ein im Abendland verwurzelter Philosoph eine andere, weit entlegene Religion betrachtet.

Auf einen Text des wohl bekanntesten und berühmtesten Poeten des Sufismus, dem Perser Maulana Dschellaleddin Rumi (1207 – 1273) basiert die „Reflexion III“. Sufismus ist die mystische Ausprägung im Islam, sie ist geprägt durch sehr ekstatische Momente. Die arabische Musiktheorie ist in ihrer Vielfalt und Farbigkeit kaum zu überbieten. Aus ihrem melodischen Reichtum – man teilt im Gegensatz zur abendländischen Musiktheorie eine Oktave nicht in 12 sondern in 18 bzw. 24 Teile – wurde eine Melodie der maqam – Reihe (Tonart): nahawand mit dem wazn (Rhythmus) sama’i taqil verbunden.

Antizipation:

Vorangestellt wird all diesen Überlegungen eine Musik, die auf der kulturellen Identität jemenischer Juden basiert. Die südarabischen Juden wurden im Laufe der Jahrhunderte immer mehr zurückgedrängt, bis sie schließlich im Jemen eine Enklave bildeten und fast in Vergessenheit gerieten. Durch diese Abkapselung finden Einflüsse von außen schwer Zugang und die Eigenheiten können über lange Zeit erhalten bleiben. Was übrig bleibt, sind authentische Zeugnisse der Vergangenheit.

Das „Kaddisch“ ist eines der wichtigsten Gebete des Judentums und wurde auf aramäisch verfasst. Für die „Antizipation“ wurde eine Version dieses Gebetes verwendet, wie sie 1914 im Jemen vorgefunden und aufgeschrieben wurde.

Antizipation

jitgäddäl (das Kaddisch)
Heilig
für Solostimme und vierstimmigen Chor (SATB) a cappella

jitgäddäl wijitgaddäs seme rabboh – omen. bo’olmoh dibro hir’utej wijamlih mälhutej wijasmah purgonej wigareb mesihej bahajehon ubjomehon ubhajjehon dehol bet jisroel ba’agoloh ubizmän gorib wiim meru. omen jehej semej rabbo meborah lo’oläm ulolemej olemäjoh jitboräh.

J`hei sch`mei raba m`vorach, l`allam, u`l`allmei allmaja. Jitbarach ,ve jischtabach ve jispaar ,ve jisromam ,ve jisnasei ,ve jishadar ,ve jishadar ,ve jisaleih ,ve jishalal schemeih d`kudschah b`rich hu. Le eihlah min kol Bir`chasah ve schiratah tuschbechatah ve nechematah, de ami`ran Be`allmaja,v`imru: omen jehej semej rabbo meborah lo’oläm ulolemej olemäjoh jitboräh.

Erhoben und geheiligt werde sein großer Name auf der Welt, die nach seinem Willen von Ihm erschaffen wurde- sein Reich soll in eurem Leben in den eurigen Tagen und im Leben des ganzen Hauses Israel schnell und in nächster Zeit erstehen. Und wir sprechen: Amein! Sein großer Name sei gepriesen in Ewigkeit und Ewigkeit der Ewigkeiten.

Gepriesen sei und gerühmt, verherrlicht, erhoben, erhöht, gefeiert, hocherhoben und gepriesen sei Name des Heiligen, gelobt sei er, hoch über jedem Lob und Gesang, Verherrlichung und Trostverheißung, die je in der Welt gesprochen wurde, sprechet Amein! Fülle des Friedens und Leben möge vom Himmel herab uns und ganz Israel zuteil werden, sprechet Amein. Der Frieden stiftet in seinen Himmelshöhen, stifte Frieden unter uns und ganz Israel, sprechet: Amein.

Reflexion I

Ut queant laxis –
Dass sie mit freien Kehlen
für zwei Sopransoli und vierstimmigen Chor (SATB) a cappella.

1. Ut queant laxis resonare fibris
Mira gestorum famuli tuorum,
Solve pollutiu labii
Sancte Johannes.                                               

2. Nuntius celso veniens Olympo,
Te patri magnum fore nasciturum,
Nomen, et vitae seriem gerendae
Ordine promit.

3. Ille promissi dubius superni,
Perdidit promptae modulos loquelae:
Sed reformasti genitus peremtae
Organa vocis.

4. Ventris obstruso recubans cubili
Senseras Regem thalamo manentem:
Hinc parens nati meritis
uterque Abdita pandit.

5. Sit decus Patri, genitaeque Proli,
Et tibi compar utriusque virtus,
Spiritus semper, Desus unusm omni
Temporis aeqvo.
Amen.

1. Dass sie mit freien Kehlen
deiner Taten Wunder besingen können deine Knechte.
Mache vom Schuldband frei die sündige Zunge
Heilger Johannes!

2. Kommend von hohen Himmelzelt,
der Bote Kündet dem Vater deiner Ankunft Größe,
Dann auch den Namen, deines Lebens Werke,
Ordnend die Rede.

3. Jener bezweifelnd himmlisches Verheissen,
Der raschen Zunge er verlor die Laute,
Durch deine Ankunft die verlorne Gabe
Ihm du ersetzest.

4. In dem geschlossnen Mutterschoss verborgen
Fühlst du den König in dem Brautgemache.
Dann durch des Kindes Macht die beiden Mütter
Künden Geheimes.

5. Ehre dem Vater und dem ein’gen Sohne,
Dir auch, o gleiche Kraft der beiden,
Heilger Geist, allzeit ein’ger Gott,
sie mögen dauern Ewige Zeiten.
Amen.

Paulus Diaconus (ca. 720 – 799)

Reflexion II

Shin Kyorei
Wahrer Geist der Leere
für vierstimmigen Chor (SATB) a cappella

…; das Nichts und das Nichtsein ist das Letzte und das Höchste. Nur das Nichts hat wahrhafte Selbständigkeit, alle andere Wirklichkeit, alles Besondere hat keine. Aus Nichts ist alles hervorgegangen, in Nichts geht alles zurück. Das Nichts ist das Eine, der Anfang und das Ende von allem.

Georg Wilhelm Friedrich Hegel

Reflexion III

Chamusch kono az rah chamuschy
Nun werde still und geh den Weg des Schwingens
für fünfstimmigen Chor (SSATB) a cappella.

chamusch kono az rah chamuschy be a’dam roh
ma’dum tscho gaschty hamagy hamdo ßa‘naiy

Nun werde still und geh den Weg des Schwingens zum Nicht – Sein hin
Wenn Du nicht – seiend wirst, so wirst Du gänzlich zu Lob und Preis.

Maulana Dschelaleddin Rumi